Union spielte nicht im Europapokal-Wettbewerb – ein Abriss der Geschichte
Günter Mielis: „Die Tragik ist, dass wir Unioner zwischen die Mühlsteine der Geschichte geraten waren. Ein Spielball der Politik.“
Nachdem sensationell der DDR-Meister FC Carl Zeiss Jena im Pokal-Finalspiel mit 2:1 bezwungen worden war, stand der Auftritt auf der großen europäischen Fußball-Bühne fest. „Ich hab gar nicht so wahrgenommen, dass wir auch als Verlierer der Begegnung im Europapokal gewesen wären. Wir wollten das Spiel gewinnen. Unser Trainer Schwenne hatte uns so ausgerichtet, dass wir an alles andere gar nicht dachten“, sagte Stopper Wolfgang Wruck 2008 in einem Interview für die Zeitschrift Horch und Guck zurückblickend.
Dem 10. Juli 1968 hatten alle Unioner mit Spannung entgegen gesehen. Im Genfer Hotel „Intercontinental“ wurden an diesem Tag die Ansetzungen für die ersten Runden der Europapokalwettbewerbe ausgelost.
Unter den anderen Pokalsiegern waren namhafte Vereine. Neben Starensembles wie dem FC Barcelona und dem FC Turin hätte das Los den FC Brügge oder auch den englischen Vertreter West Bromwich Albion als Widersacher bestimmen können. Ebenso den 1. FC Köln – ein Westdeutscher Verein im Stadion An der Alten Försterei wäre ungemein attraktiv gewesen. Per Telefon kam dann vom in der Schweiz anwesenden Vertreter des DDR-Fußballverbandes DFV die Nachricht in Köpenick an: Gegner ist der jugoslawische Vertreter FK Bor. Kein renommierter, ein nahezu unbekannter Kleinstadtklub. Als Zweitligist waren die Rot-Gelben den Stars von Roter Stern Belgrad im jugoslawischen Finale unterlegen, Belgrad als Meisterschafts-Erster wäre im Wettbewerb der Landesmeister angetreten. Eine lösbare Aufgabe, da waren sich alle Unioner einig, obwohl sie keine genauen Kenntnisse über ihren Spielpartner hatten: Für eine großartige Zuschauerkulisse an der Wuhlheide würde auch dieser Spielpartner sorgen, zu groß war der Nachhall des Pokalsieges und die Freude auf die internationale Premiere.
Das Reglement sah Hin- und Rückspiele vor, der Bessere in beiden Begegnungen würde die nächste Runde erreichen, der Verlierer ausscheiden. Als Termine waren der 18. September für die Partie in Berlin und der 2. Oktober für das Auswärtsspiel bestimmt.
Schon im Sommer überschatteten die politischen Entwicklungen in der ČSSR die sportlichen Vorhaben des 1. FC Union. In der Nacht zum 21. August 1968 waren sowjetische Militäreinheiten bis in die Hauptstadt Prag eingerückt. Die politischen Reformen in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik forderten die Ostblock-Führungsmacht heraus und sorgten für Proteste der westlichen Länder und Konflikte auf diplomatischem Gebiet.
Der Klubsekretär des 1. FC Union Berlin war derweil mit den organisatorischen Vorbereitungen der EC-Spiele gegen den FK Bor beschäftigt. Paul Fettback versuchte, Kontakt zu den Jugoslawen aufzunehmen – erfolglos. 2007 berichtete er dazu: „Ich bin schon stutzig geworden, als ich vergebens versuchte, die Verantwortlichen dort anzurufen, denn sie ließen sich wohl verleugnen.“ Mit den politischen Protesten des westlichen Lagers positionierte sich der italienische Meister als einer der ersten Klubs, die in den folgenden Tagen für Veränderungen der fußballerischen Tagesordnung sorgten. Der AC Mailand habe, so meldete die Berliner Morgenpost am 25. August, den Ausschluss der „Vertreter der UdSSR, Bulgariens, Polens, Ungarns und der Zone“ beantragen wollen.
Als „Zone“ galt damals die DDR im Sprachgebrauch der westdeutschen und Westberliner Medien. Das Blatt zitierte den Mailänder Vereinspräsidenten Fanco Carraro mit den Worten: „Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen lehnen wir die Reise zum Hinspiel der ersten Runde bei Levski Sofia ab.“ Ähnlich der Tenor auch aus Richtung des FC Zürich und des schottischen Vertreters Celtic Glasgow. Norwegens Fußballverband sagte ein für November vorgesehenes Länderspiel gegen die DDR ab. Zum Handeln sah sich nun der europäische Fußballverband UEFA gezwungen. Ein Dringlichkeitskomitee tagte am 30. August in Zürich und beschloss nicht nur eine Neuauslosung der Ansetzungen für den Pokalsieger- und den Meistercup – es nahm sie für eine Reihe von Mannschaften, nicht für alle, auch gleich vor. In getrennten Ost- und Westgruppen sollten die jeweils ersten Runden der Wettbewerbe nun ausgetragen werden. Für den 1. FC Union bedeutete das, sich auf Dynamo Moskau einzurichten. Die ursprüngliche Ansetzung des Spiels der Meister, Carl Zeiss Jena gegen Roter Stern Belgrad, blieb unangetastet.
Die Unioner gewannen unterdessen ein Heimspiel gegen Stahl Riesa mit 2:0 und planten scheinbar gelassen um. Der DFV, der DDR-Fußballverband aber reihte sich neben die gegen die Neuauslosung protestierenden Ost-Verbände ein. Das Verbandspräsidium verwies auf die Verletzung der Statuten der UEFA, die keinerlei politische Bezüge gehabt hätten. Eingeräumt wurde allerdings die prinzipielle Rechtmäßigkeit einer Entscheidung des Dringlichkeitskomitees, denn es ist ermächtigt gewesen, zwischen den Tagungen der UEFA-Exekutive Entscheidungen zu treffen. Nur so war zu verstehen, dass sich beispielsweise der DDR-Verband mit Maßnahmen noch zurückhielt. Neben der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien intervenierte auch Frankreich. Rumänien, Jugoslawien und die ČSSR dagegen waren offiziell nicht aktiv geworden. Viel Hoffnung setzten die protestierenden Verbände, die das Handeln der UEFA als Willkürakt und als Diskriminierung betrachteten, auf eine kurzfristig für den 9. September einberufene Sitzung des UEFA-Exekutivkomitees in Zürich. Hier aber scheiterte der Widerstand der kleinen Ostblock-Fraktion, mit sieben gegen zwei Stimmen bei einer Enthaltung bestätigte das Gremium die Entscheidung vom 30. August. Aus der Begründung zitierte am folgenden Tag der Berliner Tagesspiegel: „Der Beschluß des Dringlichkeitsausschusses wurde ohne jede Diskriminierung gefaßt. Er sollte mögliche Schwierigkeiten, die außerhalb der Kontrolle der UEFA standen, für die erste Runde ausschalten“, und schrieb weiter, dass „spezielle Bestimmungen“ notwendig seien, „um den regulären Ablauf eines Wettbewerbes zu gewährleisten.“ Erst von der zweiten Runde an sollte es wieder das normale Auslosungsprozedere geben. Die DDR-Verantwortlichen waren nun konsequenter als andere. So gab es im Messe-Cup, einem anderen europäischen Pokalwettbewerb, kaum Probleme. Der FC Hansa Rostock schlug den französischen Klub OGC Nizza, auch die Münchener Löwen vom TSV 1860 hatten offenbar kein Problem damit, gegen Legia Warschau aufzulaufen. Einzig BK Kopenhagen trat nicht gegen den 1. FC Lok Leipzig an.
Am 13. September fiel im Präsidium des DDR-Fußballverbandes die endgültige Entscheidung. Zwar hieß es in einem erneuten Protest noch, dass „falls diese ungerechtfertigte und diskriminierende Entscheidung nicht umgehend rückgängig gemacht wird...“ der DFV sich gezwungen sehen würde, mit seinen Vertretern nicht an den Wettbewerben teilzunehmen, doch dürfte bereits klar gewesen sein, dass ein solcher Fall nicht eintreten würde. Beim 1. FC Union Berlin waren bereits Eintrittskarten gedruckt, der Verein wies noch am 14. September, vier Tage vor der vorgesehenen Begegnung mit Moskau, im Programmheft zum Heimspiel gegen den FC Karl-Marx-Stadt seine Fördermitglieder darauf hin, dass ihre Mitglieds- und die Ehrenkarten für den Europapokal nicht gültig sein würden. Zugleich wurde aber im selben Heft schon kein EC-Spielpartner mehr namentlich erwähnt. Trainer Werner Schwenzfeier schrieb in seinem aktuellen Gruß an die Zuschauer sehr zurückhaltend davon, dass „unter Umständen“ auch noch eine „anstrengende Reise“ anstehe. Offenbar wurde noch zu diesem Zeitpunkt eine weitere Neuansetzung nicht ausgeschlossen. Den aktuellen Stand der Entwicklungen kannte Werner Schwenzfeier beim Redaktionsschluss des Heftchens noch nicht, am Spieltag selbst aber kannte ihn jeder Berliner. Union würde nicht mit den großen europäischen Klubs um den Cup spielen.
„Das haben wir vormittags beim Training erfahren“, erinnerte sich Stürmer Jürgen Stoppok 2008 in einem Interview an den Tag im September 1968, „und haben es völlig bedeppert aufgenommen, wir konnten es nicht verstehen und sind sauer gewesen.“ Günter Mielis überbrachte an diesem Tag den Spielern die Nachricht. „Ich musste das erläutern“, sagte er 2008 im Horch & Guck-Interview, „und hab ihnen klar gemacht, dass diese Neuauslosung von den Verbänden der sozialistischen Länder nicht anerkannt würde und wir deshalb nicht teilnehmen können. Damit war das erledigt.“ Nicht ganz, denn Diskussionen und Ärger waren damit programmiert. „Das mussten sie gar nicht privat sagen, das konnten sie auch offiziell. Die waren alle enttäuscht, das ist doch ganz klar. Ich konnte nichts anderes tun, als die gegebene Argumentation verwenden. Die Begründung war gar nicht so schwierig, denn die UEFA hatte mit der Neuauslosung gegen ihre eigene Satzung verstoßen. Die Tragik ist, dass wir Unioner zwischen die Mühlsteine der Geschichte geraten waren. Ein Spielball der Politik.“
In der nächsten Ausgabe der Klubzeitschrift UNION-Informationen, die wenige Tage später planmäßig erschien, lasen die Union-Anhänger unter dem Datum des 14. September eine „Erklärung“ des „Oberligakollektivs“, in der sich die Spieler “voll und ganz hinter den Beschluß des Präsidiums des Deutschen Fußballverbandes der DDR mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen“ stellten. „Das hat man dann so in der Öffentlichkeit vermittelt. Wer konnte denn damals etwas sagen ...“, meinte Wolfgang Wruck vierzig Jahre nach den Ereignissen rückblickend zu diesem Text, der die Meinung aller Union-Spieler wiedergeben sollte.
Die Enttäuschung der Aktiven, Trainer und Klubfunktionäre war groß, doch öffentlich mussten sie eine sozialistisch gute Miene zum traurigen Spiel zeigen und sich offiziell zu dieser Absage bekennen. „Das Gegenteil war richtig“, sagte auch Ex-Klubsekretär Paul Fettback später, „aber was wolltest du machen?“