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„Fußballkultur – Blick über den Tellerrand“

Vortragsreihe erfolgreich gestartet:

Mo, 09. November 2020
„Fußballkultur – Blick über den Tellerrand“

„In der Fanszene von Union hat mich immer das hohe Niveau der Selbsthilfe und Selbstorganisation begeistert. Und genau das machen auch die Proteste in meiner Heimat aus. Die Leute helfen sich gegenseitig im Kampf um ihre Grundrechte, die ihnen von einem brutalen Regime verweigert werden.“, so das Schlusswort von Alesja Belanovich-Petz anlässlich ihres Vortrags am 26. Oktober im Stadion An der Alten Försterei.

Die FuMA hatte im Rahmen ihrer neuen Veranstaltungsreihe „Fußballkultur – Blick über den Tellerrand“ die aus Belarus stammende Alesja am 26.10.2020 zu einem Vortrag eingeladen. Gemeinsam mit ihrem Mann Ingo Petz ist sie im Projekt Fankurve Ost aktiv und setzt sich mit den Fankulturen in Belarus, Russland und der Ukraine auseinander. Mit Seminarteilnehmern aus diesen Ländern war das Projekt bereits häufiger beim FCU zu Gast, bei Spielen, aber auch zu Gesprächen mit Repräsentanten des Vereins, der Union-Stiftung oder aus der Fanszene. Ingo hat zudem über 20 Jahre lang als Journalist über Belarus berichtet.

Seit mittlerweile über zwei Monaten rollt in Belarus eine Protestwelle historischen Ausmaßes gegen das Regime des Langzeitautokraten Aleksandr Lukaschenko, der gegen die Demonstranten mit Verhaftungen, Repressionen und Gewalt vorgeht. Über 14000 Menschen wurden mittlerweile inhaftiert. In einem Bericht hat die UNO über 500 Fälle von Misshandlungen und Folter dokumentiert.

Der Vortrag von Alesja und Ingo handelte von den aktuellen Protesten, beleuchtete die politischen und kulturhistorischen Hintergründe und die Rolle des Sports, des Fußballs und der Fanszenen. Zu Beginn gab Ingo einen Einblick in die Kultur und Geschichte des osteuropäischen Landes, das hierzulande vielen immer noch sehr unbekannt sein dürfte. „Da die Belarusen ihre Eigenstaatlichkeit erst 1991 mit dem Ende der Sowjetunion erlangt haben“, erklärte Ingo, „ist die nationale und staatsbürgerliche Identität der Belarusen eher schwach ausgeprägt. Zudem wurden sie in den vergangenen Jahrhunderten immer von anderen Mächten und Staaten beherrscht, sodass sie eine Art Untertanentum verinnerlicht haben. Aber das ändern die Proteste gerade. Die Belarusen wollen nun ihr politisches Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Dafür kämpfen sie in diesen unglaublich friedlichen und kreativen Protesten.“ Der Sport hat sich insgesamt vor allem durch die exzessive Gewalt, mit der das Regime gegen die Demonstranten vorgeht, politisiert. Viele bekannte Leichtathletinnen, Kampfsportler oder Handballer haben dem Regime den Rücken gekehrt. Da sie wie in der Sowjetunion komplett vom Staat abhängig sind, der sie finanziell unterstützt und mit Jobs in Militär oder in Polizeistrukturen versorgt, bestraft das Regime die Aufkündigung der Loyalität scharf. Die Sportler werden entlassen, verlieren ihren Platz in den Nationalteams. Sie werden unter Druck gesetzt, die Familien bedroht; die berühmte Basketballspielerin Elena Levchenko wurde für 15 Tage inhaftiert. Ingo berichtete, dass auch der Fußball zu 95 Prozent über den Staatshaushalt oder durch Staatsunternehmen finanziert werde. „Auch deswegen gibt es im Fußball nicht sehr viele Funktionäre, Spieler oder Trainer, die sich mit den Protesten solidarisieren.“ Auch die Fanszene treten nur selten als organisierte Gruppen in Erscheinung, was damit zu tun hat, dass sie in den vergangenen Jahren systematisch durch das Regime zerschlagen wurden. „Seit 2014 haben sich die belarusischen Szenen mit der Ukraine solidarisiert, mit der dortigen Revolution. Die ukrainischen Ultras spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Demonstranten vor den Schlägertrupps des Janukowitsch-Regimes beschützt haben. Vor der Selbstorganisation und Schlagkraft hatte auch das Regime Lukaschenka im eigenen Land Angst. Deshalb hat man zahlreiche Anführer unter fingierten Gründen verhaftet und zu drakonischen Haftstrafen verurteilt.“ Am Ende des Vortrags, der mit zahlreichen Videos und Bildern angereichert war, sagte Ingo: „Auch wenn wir aktuell sicherlich eigene Probleme haben, ist es wichtig, nach Belarus zu schauen und die Menschen dort nicht allein zu lassen.“